Sleeping Dogs - Die große Wundertüte


Wei Shen ist Undercover-Polizist in Hongkong... also: Psssst, nicht verraten.
Sein Auftrag ist es, einen Verbrecherring zu infiltrieren und zu sprengen. So arbeitet er sich vom Handlanger für kleinere Überfälle zum Topgangster hoch. Nebenbei darf er sich verlieben und muss ab und zu seinem Chef, dem Oberpolizisten, Bericht erstatten. Na, wenn da mal alles astrein ist.
Bis hier könnte es ein x-beliebiger Hongkong-Actionreißer sein. Ist's aber nicht.

Sleeping Dogs ist vieles.
Wer es sieht sagt:  "Ah, das kenne ich doch, das ist GTA 4 in Hongkong, nur viel hübscher."
Wer über Hindernisse und Dächer hetzt, der sagt:  "Das steuert sich ja genauso flüssig wie Assassins Creed."
Wer in ein Handgemenge gerät, der ruft:  "Das spielt sich ja wie der Batman in Arkham!"
Wer eine Schießerei bestreitet, der murmelt:  "Das ist doch die coole Shootermechanik von Max Payne!"
...und wer in den Straßenrennen mitfährt sagt: "Das ist ja fast so geil wie Need for Speed!"
Alle haben sie recht.



Was eigentlich als Weiterführung der halb vergessenen True Crime Serie anfing, wurde von United Front Games und Square Enix mit all diesen Versatzstücken zu einem absolut eigenständigen Spiel verschweißt.
Keine billige Kopie von dem einen oder anderen (oder allen). Alle Mechaniken sind perfekt umgesetzt. Die Kämpfe sehen aus wie aus einem Asia-Actionstreifen und steuern sich flüssig und eingängig, ohne zu einfach zu werden. Die Fahrerei in Hongkong ist ebenso schnell erlernt, dank der arcadigen Steuerung, die allerdings auch Feinheiten wie z.B. das beliebte Um-die-Ecke-Driften zulässt.

Für Abwechslung auf den Straßen ist gesorgt, unzählige Autos, Lieferwagen und Motorräder bevölkern die Stadt. Jedes ist fahrbar. Selbst, wenn man erst den eigentlichen Fahrer unsanft vom Steuer entfernen muss.
Dann geht's aber los, durch sich windende Gassen und über Freeways. Bergauf, bergab durch von bunten Leuchtreklamen mit kantonesischen Schriftzeichen beleuchtete Einkaufsstraßen.
Das Hongkong in Sleeping Dogs lebt. Es atmet und strahlt mehr Charakter und Charme aus, als das Liberty City in GTA es je konnte.


Das liegt zum großen Teil an der Frische des Settings. Keine Stadt ist in der westlichen Kultur so durch die mediale Mangel gedreht worden wie New York, das ja bekannterweise das Vorbild für Liberty City ist.
Deswegen war der Wiedererkennungswert extrem hoch, aber die Begeisterung in dieser Stadt umherzugondeln und alles zu erkunden ließ recht schnell nach.
Anders in Hongkong. Man hält auch mal an und schaut sich Geschäfte an (in manchen gibt es neue Klamotten), oder isst einen Teller Nudeln mit Huhn. Letzteres hilft bei der Regeneration der Lebensenergie.
Wie gesagt, die Stadt ist lebendig. Passanten sprechen miteinander, beschweren sich über den Verkehr und Händler preisen ihre Waren an. Wenn man einem der Händler einen Gefallen tut (eine schnelle Lieferung macht, oder ihn vor einem Rowdy beschützt) so spricht er Wei ab diesem Zeitpunkt mit Namen an und grüßt oft schon von weitem. Es laufen Werbeaktionen einer (imaginären) Getränkemarke und ab und zu sieht man einem Taschendieb bei der Arbeit zu.
All das ist mit einer Detailverliebtheit auf den Bildschirm gezaubert worden, dass es einem die Sprache verschlägt. Vor allem wenn man spätabends im Regen auf Hongkongs Straßen unterwegs ist, beeindrucken die Spiegelungen der Neonlichter, und die nassen Kleider der Passanten.


Wei selbst ist trotz seiner teilweise übelst brutalen Vorgehensweise ein Sympath. Man nimmt ihm ab, dass er oft hin und her gerissen ist, und immer wieder seine Ziele hinterfragen muss. Seine Mimik reicht nicht an die eines Cole Phelps aus "L.A. Noire" heran, aber sie ist so gut, dass der/die Spieler/in Mitgefühl für Wei und sein Dilemma entwickelt.


Der Vergleich zu GTA 4 drängt sich auch hier auf, denn beide Spiele folgen der gleichen Struktur: Missionsbasiertes Open World Gameplay. Nur macht es mit einem Protagonisten, mit dem man sich identifizieren kann (was mir bei Nico Belic unsagbar schwer fiel) um Längen mehr Spaß.
Die Führung der virtuellen Kamera ist in den zahlreichen, aber nicht überbordend langen (...hallo Snake!) Zwischensequenzen immer spannend gewählt. Die Dialoge sind glaubwürdig. Das liegt zum großen Teil an den eingeflochtenen kantonesischen Wörtern und Redensarten (die untertitelt sind). Auch die Sprecher tragen mehr als ihren Teil dazu bei, aus diesem Spiel ein exotisches Abenteuer zu machen. Hier wurde nicht gespart.
Unter den Sprechern befinden sich bekannte Namen wie Tom Wilkinson (ist zwei mal an einem Oscar vorbeigeschrammt), Will Yun Lee (kennt keiner?..wartet mal auf "The Wolverine" da spielt er den Silver Samurai) und Lucy Liu (Drei Engel für Charlie, Kill Bill).

Aber all das wäre vergebene Liebesmüh, wenn die Steuerung versagte. Tut sie aber nicht.
Eine der ersten Aktionen, die Wei vollbringen muss, ist eine Verfolgungsjagd zu Fuß. Hier flankt man über Zäune, erklimmt Mauern und Baugerüste aus Bambus, und springt über Verkaufstheken, dass die Waren nur so umherfliegen. Dies geht so leicht von der Hand (oder vom Pad), dass man meinen mag, einer der Gamedesigner der Assassins Creed Serie war am Werk.
Natürlich dauert es nicht lange und man ist umringt von üblen Gesellen, die nichts Gutes im Sinn haben.
Nun greift, wie oben erwähnt die Mechanik von Batmans beiden Ausflügen nach Arkham. Drei Tasten braucht der Kampf:  Angriff, Konter und Griff. Nicht mehr, nicht weniger.
Diese drei Kommandos entfalten eine Fülle von Möglichkeiten, die man beinahe sofort verinnerlicht.
Umzingelt von acht Gegnern denkt man nun nicht mehr: "Ach du Kacke!", sondern: "Alles klar, wer will zuerst?".


Und nach ein paar Sekunden ist der ganze Zauber vorbei, man ist der einzige der noch steht und fühlt sich wie Bruce Lee persönlich.
Letzteres ist weniger Floskel als Tatsache, denn die Animationen sind extrem gut gelungen und gehen fließend ineinander über. Man kann und sollte auch die Umgebung in die Kämpfe miteinbeziehen. So ist es möglich mit einer spektakulären Aktion einen Gegner durch die Scheibe eines riesigen Wandaquariums zu schleudern, was daraufhin seinen Inhalt samt Fischbestand in die heimische Discothek ergießt.
Es wird auch gern mal blutig, wenn Fleischerhaken oder Ventilatoren in der Nähe hängen. Hier mag jeder seine blutigste Fantasie bemühen und legt noch eine Schippe drauf. Ja, es ist wirklich soooo blutig.


Dies ist dem Spielverlauf aber weder zu- noch abträglich.
Apropos blutig. Geschossen wird auch gern mal, aber nicht so oft wie in GTA 4.
Die Schießereien in Sleeping Dogs sind beinahe genauso spannend wie die Prügeleien. Hier hat man das Gefühl in einen John-Woo-Film hineingeraten zu sein, inklusive Zeitlupeneffekte. Die kennt man ja auch aus der Max-Payne-Reihe, denen die Schießereien kaum nachstehen.
Bleibt noch die Fahrerei. Die funktioniert genauso wie man erwartet, mit einem kleinen Kniff.
Bei den meisten Open-World-Titeln hat man seine Minimap und kann dort eine Route zum nächsten Auftrag/Quartier/Nudelkoch eingeben und folgt dann der farbigen Linie auf der Karte.
Mein Problem ist, dass ich bei der Kartenguckerei immer mal gerne in den Gegenverkehr rausche. Sleeping Dogs hat eine Lösung: Auf den Straßen sind vor jedem Abbiegen Richtungspfeile angezeigt. Man muss also nicht mehr zwingend auf die Karte schauen, sondern kann mit Vollgas durch Hong Kong brausen.


Wenn man das so liest, könnte man meinen, es mit einem Flickwerk aus diversen Spielen zu tun zu bekommen. Doch zu den Puzzlezeilen gesellt sich noch ein weiteres hinzu, eines, das die Teile zu einem großen Ganzen zusammenfügt: Shenmue
.
Shenmue kam 1999 für das mittlerweile legendäre Dreamcast System heraus und war mit 47 Millionen  Dollar Produktionskosten eines der teuersten Videospiele seiner Zeit.
Hier wurde eine Stadt namens Yokosuka simuliert. Auch hier gab es Geschäfte, Tag- und Nachtzyklen und alle NPC waren voll vertont. Alles war lebendig und am Wegesrand verbargen sich viele kleine Geschichten, heute sagt man Missionen oder Quests, die es zu erkunden galt.


Minispiele gab es wie Sand am Meer (auch das wurde von Sleeping Dogs aufgegriffen mit Hahnenkämpfen und Karaoke singen).
Eben ein absoluter Meilenstein, mit dem sein Erschaffer Yu Suzuki seiner Zeit weit voraus war.
Und von genau diesem Meilenstein leiht sich Sleeping Dogs ein klein wenig Seele und haucht seiner Welt das Leben ein, welches sie braucht um glaubwürdig zu sein und trotz allem verspielt zu wirken.

Alles in allem betrachtet ist Sleeping Dogs ein Spiel mit bekannten Teilen, die aber so poliert  sind und perfekt miteinander harmonieren, dass man es absolut jedem Open-World-Möger empfehlen kann und es jedem Open-World-Nichtmöger trotzdem dringend ans Herz legt. Denn was kann an einem Sightseeing-Abenteuer in Hongkong schon falsch sein?

Nicht unerwähnt sollte auch der kommende DLC bleiben: Ab Halloween suchen Geister, Zombies und Chinesische Vampire Hongkong heim. Das kann nur gut werden!


Gespielt wurde die PC Version, die auf einem Mittelklasse Rechner absolut atemberaubend ausschaut und sich mit einem Gamepad genauso spielt wie auf einer Konsole.

An dieser Stelle, danke an Erich Rudolf, der mich auf Sleeping Dogs aufmerksam gemacht hat und somit nicht ganz unschuldig ist an dieser, klein wenig zu lang geratenen, Review. :)

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